Tante Anni ...

Tante Änni, die Sonderbare

Da die Haustür offen ist, gehe ich hinein. Vom Flur aus gehen Wohnzimmer und Küche ab. Durch die zugezogenen Vorhänge liegen beide Räume im Halbdunkel. Ich nehme den abgestandenen Geruch wahr. Es riecht wie in einem Mausoleum. Dabei ist Tante Änni erst seit drei Tagen tot und wartet beim Bestatter auf ihre Beerdigung.

Aus dem Keller höre ich Geräusche und vernehme die fluchende Stimme meiner Mutter. Also steige ich die Treppe hinunter. Ich finde meine Mutter in einem Raum, in dem sich Regale voll mit Aktenordnern befinden. Meine Mutter wuselt unkoordiniert im Raum herum. Sie wuselt immer, denn ihre Handlungen sehen meist nie zielgerichtet aus.

„Ahhhhhh! Musst du mich so erschrecken! Kannst du nichts sagen“, schreit meine Mutter und fasst sich an ihre Brust.

 „Du weißt doch mein Herz!“ Meine Mutter ist selbst mit 80 Jahren kerngesund.

„Tach auch. Du hast mich angerufen und brauchst Hilfe. Was liegt an?“

„Ach ja, Änni hat das Haus dem Roten Kreuz vermacht. Und es muss in vier Wochen übergeben werden. Die Möbel werden abgeholt, aber um den Keller müssen wir uns kümmern.“

Tante Änni ist kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag gestorben und war die Tante meiner Mutter.

Ich sehe mich um.

„Und, was ist zu tun?“, frage ich.

„Die ganzen Aktenordner bekommt unser Kegelverein, aber sie müssen geleert sein.“

„Die ollen Dinger? Wie alt sind die? 40 Jahre? Die sind doch ganz vergilbt?“

„Papperlapapp. Die sind viel zu schade zum Wegwerfen!“ entrüstet sich meine Mutter.

Ok, denke ich, Nachkriegsgeneration!

Ich sehe mir die Beschriftung der Ordner an. Sie sind nach Alphabet sortiert. Irgendwas vom Deutschen Roten Kreuz.

„Warum hat Tante Änni die alten Ordner aufbewahrt?“

„Änni konnte doch nie was wegwerfen!“, höre ich tadelnd.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, denke ich, verkneife mir aber meinen Kommentar. Stattdessen frage ich: 

„Und was hatte Tante Änni mit dem DRK zu tun?“

„Irgendwie hat die Familien zusammengebracht“, erzählt meine Mutter, während sie Ordner, die schon im Regal leer zurückgestellt waren, schnaufend wieder hervorholt.

„Wie zusammengebracht?“, will ich wissen.

„Ja, nach dem Krieg war doch alles durcheinander. Viele Familien waren getrennt oder Angehörige verschollen, und so hat das DRK einen Suchdienst gestartet!“, antwortet meine Mutter genervt.

Ich leere den ersten Ordner.

„Das war doch ne tolle Aufgabe!“, erwidere ich.

„Ach, Papperlapapp. Änni hätte eigentlich das zerstörte Elternhaus mit aufbauen sollen, aber nein, dafür war sich die gnädige Dame zu fein. Dann lieber beim DRK im Büro!“, meckert sie.

„Aber das war doch eine wichtige Aufgabe“, entgegne ich.

Mein Respekt vor Tante Änni wächst.

Meine Mutter hört gar nicht richtig zu.

„Aber Änni war schon immer so eigensinnig und sonderbar. Die war ja auch unten!“

„Wie, wo unten? Im Keller? Im Pütt?“

„Nein, geheim unten!“

Jetzt dämmert es mir: „Du meinst, sie war im Untergrund!“

„Ja, und hat uns alle damit in Gefahr gebracht!“, empört sich meine Mutter.

Mein Respekt vor Tante Änni wächst weiter.

„Wenn das alle gemacht hätten, wäre der Wahnsinn schneller vorbei gewesen!“, sage ich erbost.

„Ja, ja, heute kann man das leicht sagen.“

Ich nehme den Papierstapel aus der Akte und will den leeren Ordner wieder ins Regal stellen, als ich merke, dass ein Blatt zurückgeblieben ist. Ein Schreiben vom 25.05.1948, aber nicht als Durchschlag, sondern als Original. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Ich lese den Text. Mein Herz schlägt schneller.

Das kann nicht wahr sein, denke ich.

Hektisch stehe ich auf und wühle mich durch den abgelegten Papierstapel. Und da! Der Durchschlag des Schreibens.

Oh, je! Das heißt …

Ich stehe wir erstarrt vor dem Papierstapel. Immer noch mit den Blatt in der Hand.

„Was ist mit dir?“, fragt meine Mutter.

„Hier ist ein Schreiben an einen Herrn Huber, dass seine dreijährige Tochter Gisela gefunden worden ist. Es scheint, dass seine Frau und die beiden Zwillingstöchter bei einem Bombenangriff verschüttet wurden. Nur die Tochter Irmtraut konnte lebend geborgen werden. Die Mutter war tot und von der Tochter Gisela fehlte jede Spur. Und in diesem Schreiben teilte man dem Vater mit, dass sich seine Tochter in einem Kinderheim in Kiel befindet.“

„Ja, und? Dann ist das doch gut ausgegangen!“, erwidert meine Mutter in ihrer praktischen Art.

„Nein, denn da das Original und der Durchschlag abgeheftet wurden, bekam der Vater keine Benachrichtigung.“

Meine Mutter wuselt weiter

„Die Schwestern könnten heute noch leben und wären dann 76 Jahre alt. Mutter!“

„Ja?“

„Das ist doch schrecklich, da sollte man nachforschen, ob die Geschwister sich trotzdem gefunden haben.“

„Warum SOLLTE MAN das tun?“

„Weil MAN so was macht!“, erwidere ich fassungslos.

„Du bist wie Änni!“

Ich empfinde das wie einen Ritterschlag.

„Nie konnte die sich mit irgendetwas abfinden. Wen interessiert das denn heute noch?“, höre ich.

„Man soll Dinge ändern, die man ändern kann!“, sage ich laut.

Ich merke, wie meine Wut hochkocht. Es erinnert mich an frühere Diskussionen mit meiner Mutter, die genauso fruchtlos und ignorant waren. Allem vermeintlich Unangenehmen aus dem Weg gehen.

Meine Mutter verlässt den Raum.

„Wo gehst du denn jetzt hin?“, rufe ich ihr hinterher.

„Ich will über das Thema nicht mehr reden. Und werde jetzt etwas Sinnvolles tun! Kaffee kochen!“, sagt sie mit Betonung auf ‚Sinnvolles‘ und rauscht ab.

Wie immer, denke ich bei mir, flüchtet sie.

Ich überlege einen Moment, wo ich meine Suche nach den Schwestern beginnen soll. Kurz denke ich lächelnd an Tante Änni, die Wunderbare.

Dann nehme ich mein Smartphone zur Hand.

Barbara Maahs

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