War das alles?

War das alles?

Ich trete aus der Haustür und sehe, dass es aufgehört hat zu regnen. Ein perfekter Regenbogen zeichnet sich am Himmel ab. Angewidert wende ich mich ab. Mir ist nicht nach einem kitschig schönen Regenbogen zumute.

Den Mantel fest um den Körper geschlungen, gehe ich weiter. Sonst nehme ich immer einen großen Umweg, dann bin ich länger unterwegs und nicht so schnell wieder zuhause. Was soll ich dort? Aber heute nehme ich den direkten Weg. Mein Vorhaben duldet keinen Aufschub.

Als ich am Ziel ankomme, verstummt der Verkehrslärm hinter mir und ich tauche in die Stille ein. Ich schaue mich um, aber auf dem Friedhof ist niemand außer mir. Doch. Etwas weiter entfernt sehe ich eine Frau, die den Grabstein ihres Mannes poliert.

Ist die Meiers auch wieder da“, denke ich. „Die übertreibt es aber langsam. Geht zwei Mal am Tag zum Friedhof zu ihrem Mann. Zweimal! Ist die nicht so alt wie ich? 81 Jahre?  Die war ja so dicke mit ihrem Mann und hat den immer über den Klee gelobt, wie schlau er wäre. Dabei war der doof wie 10 Meter Landstraße.“

Ich halte gedanklich inne.

Na ja. Ich darf das gar nicht so sagen, ich dackel manchmal auch zweimal am Tag zum Friedhof, aber nicht, weil ich meinen Mann so toll fand, sondern weil es nichts anderes mehr in meinem Leben gibt. In der Lotterie der Ehemänner hatte ich auch nicht das große Los gezogen.“

Ich komme am Grab meines Mannes an und sehe, dass auf dem Weg davor etwas liegt. „Das gibt es doch nicht! Hat jemand hier Reklamezettel entsorgt.“ Ich murmle nicht jugendfreie Sätze vor mich hin und stelle die mitgebrachte Plastiktüte hinter den Grabstein. „Hat der Walter, vom Nachbargrab, wieder sein Altpapier hier entsorgt!“ Auf dem Weg zu Wasserstation nehme ich die Zettel mit und werfe sie, ohne einen Blick auf sie zu werfen, in den Abfalleimer. Ich nehme eine der dort stehenden Gießkannen und laufe zurück zum Grab.

An einer Stelle des Grabes rupfe ich Pflanzen aus, lege sie beiseite, nehme einen kleinen Spaten aus der mitgebrachten Plastiktüte und fange an zu graben. Nach zehn Minuten bin ich schweißnass und mein Rücken fängt an zu schmerzen. Stöhnend richte ich mit auf, drücke den Rücken durch und sehe mich kurz um. Frau Meiers beachtet mich nicht. Ich ziehe meinen Mantel aus, lege ihn auf den Grabstein und stecke die losen Strähnen meiner grauen Haare wieder hinter das Haarband.

Nach weiteren fünf Minuten bin ich an meinem Ziel angekommen. Ich lege den Spaten hinter den Grabstein, nehme erneut die Plastiktüte, hole einen großen gefüllten Beutel heraus und schütte den Inhalt in das Loch.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schatz!“

Ich lächle und bin stolz auf mich. Die Plastiktüten werfe ich auch hinein. Danach schaufele ich das Loch wieder zu und pflanze die Blumen in die Erde. Mit der Gießkanne wässere ich diese, nehme summend meinen Mantel und ziehe ihn an.

Als ich mit der leeren Gießkanne an der Wasserstation ankomme, sehe ich, dass einer der Zettel, die ich weggeworfen habe neben den Eimer gefallen ist. Gedankenverloren hebe ich ihn auf und will ihn wieder hineinwerfen, als mein Blick auf den Text des Zettels fällt. Ich starre auf das Blatt und bin erstaunt über das, was ich dort lese. Langsam und nachdenklich drehe mich um, lasse die Kanne stehen und gehe zur nächsten Bank. Ich setze mich und lese den Zettel noch mal. “AN ALLE, DIE NICHT DIE GANZE ZEIT AUF IHR ENDE WARTEN WOLLEN, SONDERN NOCHMAL LOSLEGEN MÖCHTEN! INTERESSIERT? DANN KOMMT HEUTE UM 16 UHR INS CAFE PROFESSOR UNRAT!“

Ich starre vor mich hin. Plötzlich höre ich Schritte auf dem Weg hinter mir und drehe mich erschrocken um, es ist Frau Meiers, die sich auf ihrem Nachhauseweg befindet.

„Guten Tag Frau Kurz!“ sagt sie zu mir und als ich nicht antworte und sie nur verwundert ansehe, fragt sie: “Geht es Ihnen gut?“

 Frau Meiers tritt an die Bank heran und ich reiche ihr wortlos den Zettel. Sie setzt sich neben mich auf die Bank und liest.

„Ist ja unverschämt. An alle, die aufs Ende warten. Und dann ein Treffen in diesem Intellektuellen-Café.“

Ich kratze mich unter meinem Kinn und sehe sie an: „Aber irgendwie haben die Verfasser doch recht. Worauf warten wir Alten denn noch? Jeder Tag bei mir ist gleich und trostlos. Bei Ihnen anscheinend auch, sonst wären sie auch nicht so oft auf dem Friedhof wie ich.“

Frau Meiers schnappt nach Luft. „Also, also, ich“, stammelt sie. „Ich fühle mich ausgefüllt.“

„Sicher?“, frage ich. „Welche Aussichten habe wir denn noch? Jeden Tag mehrmals zum Grab laufen? Und das so lange, bis auch wir hier landen?“

„Frau Kurz, was ist? Warum sind so Sie sauer?“

Ich antworte gereizt: “Habe erfahren, dass mein Mann seiner Skatrunde 5.000 Euro vor seinem Tod geschenkt hat. Ich bekomme eine Minirente, weil er es in keinem Job lange ausgehalten hat. Aber ich durfte nicht arbeiten, weil ich ihn ja zuhause bedienen sollte. Ich könnte vor Wut platzen!“ 

„Und dann gehen sie noch immer so oft zu seinem Grab?“, fragt Frau Meiers ungläubig.

„Heute ist mein letzter Tag hier auf dem Friedhof“, erwidere ich. “Ich habe Hundescheiße gesammelt, ein tiefes Loch gegraben, bis ich seinen Sarg sehen konnte, und den Kot da hineingeschüttet. Er war ja so geruchsempfindlich.“ Ich lache auf. „Ab morgen kümmert sich die Friedhofsgärtnerei um ihn. Statt Erde und Blumen bekommt er eine pflegeleichte Kiesschicht.“

„Und wenn die bis auf den Hundekot graben?“, will Frau Meiers wissen.

„So tief graben die nie bei ihren Arbeiten. Und wenn. Als ich den Gedanken gefasst hatte, den Kot zu sammeln und zu vergraben, habe ich mir überlegt, ob ich vielleicht nicht die Einzige bin, die sowas auf dem Friedhof macht.  Frau Meiers sieht mich fragend an.

„Hier zum Beispiel“, sage ich und zeige auf das Grab neben der Bank, „hier liegt Frau Schmidt, die immer über ihren Mann gelästert hat, weil der so Schweißfüße hatte. Vielleicht hat er ja seine alten Socken bei ihr vergraben, um sich zu rächen.“

„Oder auch seine Schuhe“, entgegnet belustigt Frau Meiers.

„Sind das nicht Stinkerchen*, die bei der immer nörgelnden alten Schneider gepflanzt sind, oder Männertreu beim Franz Alt? Da sieht man die Gräber doch mit anderen Augen.“

Wir beide lachen. Am Grab zwei Gänge weiter ist gerade ein älterer Mann angekommen. Er schaut in unsere Richtung und schüttelt den Kopf.

„Der denkt bestimmt wir alten Weiber kippen uns einen kleinen Jägermeister und lachen uns auf dem Friedhof kaputt!“, sage ich zu Frau Meiers. Frau Meiers kichert. Wir schweigen. Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolkendecke.

„Denken sie manchmal auch darüber nach, welche Träume sie als junges Mädchen hatten? Und sehen dann, wie wenig sie davon verwirklicht haben?“, frage ich.

„Das waren andere Zeiten als heute“, antwortet Frau Meiers.

„Wie meinen Sie das?“, will ich wissen.

„Sehen Sie sich doch an, wie wir erzogen wurden? Nachkriegsgeneration. Wir Mädchen sollten ein bisschen Schule machen, denn für uns Töchter war die höhere Schule Geldverschwendung, weil wir ja sowieso irgendwann eine Ehe eingehen. Einen Mann aus der Gegend kennenlernen und heiraten. Meine Mutter hat mir beigebracht, dass es meine Aufgabe sei, dafür zu sorgen, dass mein Mann und meine Kinder ein gemütliches Zuhause haben.“

Ich runzele nachdenklich die Stirn. „Das stimmt“, erwidere ich. „Aber wo blieben wir Frauen denn?“

„Zuhause“, sagt Frau Meiers, „unsere Männer hatten ja auch ihre Pflichten und nicht immer eine einfache Arbeit.“

Wir schweigen wieder und schauen beide geradeaus ins Nichts. Plötzlich sagt Frau Meiers:

„Ich wollte immer mal im Hotel Sacher in Wien ein Stück Sachertorte essen. In einem Journal hatte ich als junges Mädchen einen Artikel über das Hotel und die Torte gelesen. Das stellte ich mir toll vor.“

„Warum haben sie es nie gemacht?“

„Meine Familie zog es immer in die Berge. Und ich habe gedacht, irgendwann wird sich das mit Wien mal ergeben. Und Sie Frau Kurz?“ 

„Ich wollte immer ein Instrument lernen.“

„Welches denn?“

„Gitarre. Aber als Kind hatte ich dafür kein Geld und mein Mann empfand das als unnütze Geldausgabe.“

Wir schweigen erneut und hängen unseren Gedanken nach. Frau Meiers fängt an zu kichern.

„Wissen Sie, was ich schon immer mal machen wollte?“

„Nein, was denn?“

„In so einen Laden gehen.“

„Was für einen Laden denn?“ frage ich

„Ja, da wo so anrüchiges Zeug verkauft wird.“ antwortet sie.

„Anrüchiges Zeug? Einen Shishaladen?“

„Schnickschnack was? Nein!“

„Was denn?“ will ich ungeduldig wissen.

Ganz leise und gedehnt wispert sie: „Einen S-e-c-h-s-shop.“

„Einen Sexshop?“ frage ich laut.

Der Mann einige Gräber weiter dreht sich wieder zu uns um, schüttelte wieder den Kopf und brummelt was Unverständliches.

„Wie kommen Sie denn da drauf?“, flüstere ich.

„Tja, Dinge, die man immer mal tuen wollte.“

„Wollte ihr Mann nicht?“

„Dem habe ich das gar nicht gesagt.“

„Warum nicht?“, frage ich

„Was hätte er denn dann von mir gedacht?“, sagt Frau Meiers.

„Wahrscheinlich wäre er positiv überrascht gewesen.“

„Meinen Sie?“, fragt Frau Meiers verlegen. Wir beide kichern.

„Ach, wissen Sie, wir halten mal alles fest, was wir immer mal machen wollten. Erstens?“

„Sechsshop!“, tönt Frau Meiers.

„Der geht Ihnen aber nicht mehr aus dem Kopf. Aber gut. Und ich war noch nie bei der Kosmetikerin. Mein Mann sagte immer, das wäre bei mir Verschwendung. Also was haben wir: Sexshop, Hotel Sacher, Gitarre spielen lernen, Kosmetik, hört sich für den Anfang gut an. Wissen Sie was, es ist kurz vor 16 Uhr, lassen Sie uns zum Café gehen und uns das ansehen, was es dort gibt“, sage ich zu Frau Meiers.

„Jetzt sofort?“, fragt sie erstaunt.

„Wir sollten keine Minute mehr verlieren.“

Wir lachen beide und machen uns auf den Weg. Vor dem Café angekommen bleiben wir vor der Tür stehen. Ich drehe mich zu Frau Meiers um, strecke ihr die Hand entgegen und sage: „Übrigens, ich bin Gertrud.“ „Inge“, antwortet diese, grinst und erwidert meinen Händedruck. „Dann Inge, auf ins neue Leben!“, sage ich, öffne schwungvoll die Tür und wir beide gehen hinein.

* Stinkerchen: Spitzname für Studentenblumen (Tagetes)

5. Platz beim Juni-Thema eines Verlages 🙂
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