Lampenfieber ...

Lampenfieber

Nur noch wenige Meter. Das Gebäude ist schon zu sehen. Es regnet und der Wind zerrt an meinem Regenschirm. Kampf der Elemente: Natur gegen Mensch. Ich fühle mich wie in Hemingways ‚Der alte Mann und das Meer‘ und kämpfe nicht mit dem Schirm, sondern mit dem Marlin.

Ich stolpere. Irgendwas steht im Weg. Gezeter dringt in mein Ohr, und ich sehe eine Frau, deren Schirm ich mit meinem wehenden Schirm angerempelt habe. „T’schuldigung.“, murmle ich. Ich bändige meinen Schirm und gehe weiter, während die Frau immer noch hinter mir her schimpft. Aber das nehme ich gedanklich nicht mehr auf. Ich bin nervös, aufgeregt und habe Angst, den Nachmittag heute nicht durchzustehen.

Als ich vor dem Eingang des Gebäudes stehe, hört es natürlich auf zu regnen. Typisch. Mein Blick geht hoch zum Gebäude. Es kommt mir jeden Tag höher vor. Beim Betreten des Gebäudes begrüßt mich der Pförtner. „Herr Lehmann, sie sind aber früh hier. Können es wohl nicht abwarten!“, sagt er und fügt seine Automatenlache hinzu. Jedes Mal frage ich mich, ob er nicht mehr Geld verdienen könnte, wenn er seine Lache bei den Daily-Soaps im Fernsehen einsetzen würde. Die Form des Lachens stimmt schon mal. Im Vorbeigehen nicke ich ihm zu und steige die Treppen hinauf zu meiner Garderobe.

Darin angekommen lasse ich mich seufzend vor dem Spiegel nieder. Mein Spiegelbild erschreckt mich. Ich muss mich zwingen, es anzusehen. Oh Mann, mein Gesicht sieht aus wie das eines 75- und nicht 55-Jährigen. Und das kann ich nicht mal auf die Beleuchtung schieben. Ich habe Magenschmerzen und mir wird übel. Auch das noch.

Woher kommt diese Angst? Warum wird das Lampenfieber mit jedem Mal schlimmer? Heißt es nicht, dass es irgendwann besser wird? Schließlich mache ich das schon 32 Jahre. Ja, aber vor 32 Jahren war ich noch unbedarft und konnte die Menge mitreißen. Ok, das Publikum ist kritischer geworden. Die Generationen ändern sich. Damals war es auch einfacher, denn man hatte nicht mit der heutigen Konkurrenz zu kämpfen. Fernsehprogramm rund um die Uhr und ständig schnell wechselnde Kinofilme. Ganz zu schweigen von Computerspielen.

Mein Statist ist schon da und sitzt im Stuhl neben mir. Er schaut mich grinsend an. „Ja, du hast gut grinsen. Du bist nur der Statist, aber ich habe die tragende Rolle!“ Mein Mund fühlt

sich so trocken an. Ich erhebe mich und ziehe meine Jacke aus, welche ich an den Nagel an der Wand hänge. Garderobenständer sind aus. Meine Tasche, die ich neben meinen Stuhl gestellt habe, nehme ich hoch und hole eine Halbliterflasche Wodka heraus. Meine Hände sind schweißnass. Jetzt nur nicht fallen lassen! Ich trinke direkt aus der Flasche, denn Gläser gibt es hier nicht. Die Flüssigkeit brennt in meiner Kehle, aber in meinem Magen breitet sich ein wohliges Gefühl aus. Mein Statist guckt mich missbilligend an. „Ja, ja, schon gut. Ist ja nur zur Beruhigung!“, verteidige ich mich.

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass wir in zehn Minuten raus müssen. Zehn Minuten bis zum Auftritt. Wie schaffe ich das? Ich nehme noch einen Schluck. Was ist Lampenfieber eigentlich? Ist das wirklich Angst?  Dabei soll Lampenfieber gut sein, denn dann besteht eine Grundspannung, die motivierend und leistungssteigernd ist. Aber wenn man Pech hat, können sich mit der Zeit Angststörungen entwickeln. Ich habe immer Pech …

Noch fünf Minuten. Ja, es ist wirklich Angst. Angst vor dem Publikum. Angst vor deren Reaktionen. Angst, besonders den negativen Reaktionen ausgeliefert zu sein.

Es ist soweit. Ich tausche mein Jeanshemd gegen den schwarzen Rollkragenpulli und nehme meinen Statisten, da er nicht laufen kann, auf den Arm. Erklimme die fünf Stufen bis zur Bühne und atme noch mal tief durch. Der kleine Vorhang öffnet sich und ich halte meinen Statisten Kasper ins Publikum. „Seid ihr alle da?“, rufe ich in die Menge. „Ja!“, schreien die Kinder vergnügt zurück. Ich höre aber auch „Nein!“ und „Hau ab, du Opfer!“ Mein Magen zieht sich zusammen. Ich brauche einen Schluck.

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